„Cantigas de Santa Maria“ (Lieder aus dem Mittelalter)

König Alfons, geboren am 23. November 1221 in Toledo, bestieg 1252 den Thron seines Vaters, König Fernando III. von Kastilien. Seine Mutter war die Stauferin Beatrix (Isabel) von Schwaben. Seit seiner frühen Jugend war König Alfons sehr wissbegierig. Er wurde ein ehrgeiziger und machtbewusster Universalgelehrter, der sich für Intelektuelle, Dichter, Wissenschaftler und Juristen, unabhängig ihrer Glaubensrichtung, einsetzte und selbst juristische, astrologische, ludologische und poetische Schriften sammelte und verfasste. (Vgl.: Rafael Sánchez Saus, „Alfonso X el Sabio, el Rey español que quiso ser Emperador de Europa“)
Seine mittelalterliche Sammlung „Cantigas de Santa Maria“ umfasst über 400 Lieder, teils auch von ihm selbst komponiert. Sie entstand zu Beginn der letzten Phase der Reconquista und sollte deswegen auch in diesem geschichtlich-sozialen Kontext betrachtet werden. Viele Übertragungen, die im Laufe der Zeit entstanden sind, ähneln nur noch sehr wenig den in Notenform überlieferten Originalen. Einige Melodien und Texte dieser modernen Übertragungen wirken störend, weil sie den ursprünglichen Gehalt der Lieder ganz anders wiedergeben und verfremden. Offenbar haben nachfolgende Komponisten die Ästhetik der Melodien genutzt und dabei den historischen Kontext des oft grausamen Mittelalters nicht beachtet.
Um dieser mittelalterlichen Musik ein Stück näher zu kommen, habe ich einige Lieder ausgewählt und neu transkribiert, also den Text ins Deutsche übersetzt und die Quadratnotation in moderne Notenschrift übertragen. Die originalen Noten und Texte habe ich reflektiert und mit Anmerkungen versehen, um das Vorgehen meiner Übertragungen zu erklären und um die historischen Melodien und Texte etwas besser verstehen zu können. Als Quelle stand mir die früheste Sammlung der Cantigas, der To-Kodex, zur Verfügung. (Online verfügbar in der Biblioteca Digital Hispánica der Biblioteca Nacional de España.) Die Gitarrenbegleitung ist selbstverständlich nicht original, sondern von mir. Ob und wie die Cantigas in ihrer Entstehungszeit mit Instrumenten begleitet wurden, ist schwer zu erschließen.
Die originalen Texte und die mittelalterliche Notation bieten viele interessante Themen, die im Gitarrenunterricht für Abwechselung sorgen können. Immer noch aktuell und zeitlos scheinen ihre poetische Ausdrucksweise, ihre eingängigen Melodien und Formen, die überraschenderweise häufig einem Taktschema folgen. Die Lieder entstanden aber in düsteren Zeiten der Kreuzzüge, im Umfeld von Mönchen und Rittern und wurden wohl als Balsam für ihre leidenden Seelen gebraucht. Aus ihnen wurden Trost und Motivation für mittelalterlichen Machtkämpfe geschöpft.
Im Mittelpunkt der Lieder steht die biblische Maria, wobei der Name nicht immer genau erahnen lässt, welche Maria eigentlich gemeint ist. Allgemein wird angenommen, die Cantigas würden von der Jungfrau Maria handeln, also von Maria von Nazaret, der Mutter von Jesus. In einigen Cantigas tritt aber auch „Virga de Jesse“, also Maria Magdalena, die Begleiterin von Jesus auf. Das Lied „Rosa das rosas e flor das flores“, kurz „Rosa das rosas“, handelt von „señora Maria“, also von der „Herrin Maria“, einer auserwählten Maria, einem poetischen Frauenideal. Es geht in diesem Lied, wie im einleitenden Satz formuliert ist, darum, Maria als Herrscherin zu loben und ihre besonderen Eigenschaften als auserwählte Dame zu benennen, nämlich „ihre Schönheit, ihre Güte und ihre große Begabung“. Es wird nicht nur ihr äußerer Glanz, also ihr gutes Aussehen gepriesen, sondern auch ihre Fröhlichkeit und Freude, die sie ausstrahlt. Auch ihre menschliche Eigenschaft als „Dame der Frommheit“ und ihre außergewöhnliche Fähigkeit als „Befreierin von Sorgen und Schmerzen“ werden genannt. Maria wird in den Cantigas zu einer göttlichen Frau der singenden und kämpfenden Reiter stilisiert.